"Kampf & Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft" von Stephan Anpalagan
Können Menschen mit Migrationsgeschichte jemals Deutsche sein?
Der Autor:
Stephan Anpalagan ist ein deutscher Theologe, Autor und Journalist, der sich vor allem mit gesellschaftlichen Themen wie Rechtsextremismus beschäftigt.
Der Weg zum Buch:
Kennengelernt habe ich Anpalagan über den Podcast Gegen jede Überzeugung, in dem er zusammen mit der Journalistin Nicole Diekmann über provokante Thesen diskutiert.
Das Buch:
In “Kampf & Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft” (2023) spricht Anpalagan über das Deutschsein und beleuchtet, welche Konflikte es zwischen Otto Normalverbrauchern und Menschen mit Migrationshintergrund gab und gibt.
Das Buch beginnt mit dem Zitat “Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen” von Max Frisch, das sinnbildlich für die Diskussion rund um die Herausforderungen bei der Integration von Gastarbeitern steht. Der Autor wirft einen Blick zurück in die 1950er Jahre, in denen Italiener nach Deutschland eingeladen wurden, um etwa im VW-Werk in Wolfsburg zu arbeiten. So wohlwollend und nett das seinerzeit klang, so unwirtlich waren die Bedingungen für die neuen Mitbürger: Sie wurden in umzäumten Holzbaracken untergebracht und unter anderem von einem Lagerarzt (sic) versorgt. Durch eine derartige Abschottung und Andersbehandlung sorgte man zuverlässig und nicht ganz zufällig für die Bildung von Parallelgesellschaften, was sich einige Jahre später für türkische Einwanderer nach Deutschland wiederholen sollte.
Die Türkei wird auch bei den Geschehnissen rund um den Fußballer Mesut Özil ein Thema, nämlich als er sich 2018 zusammen mit einem anderen Mitglied der deutschen Nationalmannschaft mit dem türkischen Präsidenten Erdogan fotografieren lässt und die Debatte darüber in kürzester Zeit entgleist. Obwohl Özil Deutscher ist, wird ihm als Enkel türkischer Gastarbeiter genau deswegen im Nachhinein ein Strick gedreht. (In diesem Zusammenhang möchte ich den wunderbaren Podcast SchwarzRotGold: Mesut Özil zu Gast bei Freunden von Khesrau Behroz empfehlen, der diese Geschichte sehr eindrücklich erzählt.)
Im weiteren Verlauf widmet sich der Autor vor allem der einfach klingenden Frage “was ist deutsch?”. Es geht um Lieschen Müller, das typisch deutsche Wohnzimmer, die Nationalhymne, die oft zitierten Dichter und Denker, den Wald, den Wolf (!), Tugenden wie Ordnungsliebe und Pünktlichkeit und die sich daraus speisende Diskussion sowie die deutsche Leitkultur. Stück für Stück dekonstruiert Anpalagan dabei diese verschiedenen Elemente und zeigt, wie sehr die gesellschaftliche und politische Debatte besonders um das Schlagwort “Leitkultur” im Nebel stochert.
Warum man dieses Buch lesen sollte:
Aktueller könnte ein Buch kaum sein. In einer Zeit, in der rechtsextreme Kreise völlig enthemmt Deportationsphantasien diskutieren, in denen die Beiträge der Hardliner in den Asyldebatten hierzulande und in Europa immer schriller werden und in denen eine Faschist:innenpartei Umfragerekorde erzielt, braucht es eine ruhige Einordnung, Bewertung, und vor allem: Haltung. Denn es geht ja nicht nur um ein paar versprengte Irre hier und da. Ganz im Gegenteil, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind und waren auch immer in der Mitte der Gesellschaft anschlussfähig. Anpalagan zeigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die nach nicht klar definierten Regeln einer Leitkultur in diesem Land leben möchten und, wie im Fall von Mesut Özil, Auszeichnungen für Integration erhalten, sofort wieder als “die anderen” gesehen werden, falls es einmal eng wird.
Der Gipfel der Ironie: es geht ein Aufschrei durchs Land, wenn nicht genug ausländische Arbeitskräfte im Land sind, die zu katastrophalen Bedingungen Spargel stechen, Schweine schlachten oder Pakete verteilen. Ist das am Ende typisch deutsch?